“Minus 43 Grad: Kältewelle legt Leben in Skandinavien auf Eis. Aus Sibirien und der Arktis kommend hat sich eine Kältewelle über Skandinavien gelegt. In Schweden stecken über 1.000 Autos auf einer Fernstraße in Schnee und Eis fest. In Lappland wurden Rekordwerte von minus 43,6 Grad gemessen” BR24, 2024
Vom 27.12.2023 bis zum 09.01.2024 begaben sich 34 Teilnehmende und 11 Teamende auf die wohl außergewöhnlichste Aktion des Arbeitskreises für Ranger und Rover, die sogenannte "Schweden Lempelse". Inspiriert vom dänischen Wort für Entspannung war die Aktion seit jeher als kleine Auszeit und Veranstaltung zum Kraft tanken und Freu(n)de gewinnen an der RR-Stufe gedacht. Sie soll den Zusammenhalt stärken und auch älteren Pfadfinder:innen die Möglichkeit bieten, als Teilnehmende Person einfach mal Programm erleben zu dürfen und die Seele baumeln zu lassen. Soweit der Plan; sonderlich entspannt war der Start leider nicht, unsere Reise begann sehr früh morgens und sollte nach einer turbulenten Anreise, mit der wir es sogar in die Lokalzeitung schafften, ganze 44 Stunden (statt geplanten 33 Stunden) dauern, bis wir unser Ziel in Gällivare, Lappland endlich erreichten, wo uns Helena, eine engagierte Pfadfinderin vor Ort, herzlich begrüßte. Die kommenden Tage waren prall gefüllt mit einem abwechslungsreichen Programm, das uns die Vielfalt und Schönheit der nordschwedischen Landschaft näher brachte. Zahlreiche Aktivitäten wie Schneeballschlachten, Wanderungen durch die verschneite Umgebung, und nicht zu vergessen das Streicheln von Rentieren sorgten für unvergessliche Erlebnisse.
Bericht:
Am 30.12.2023 unternahmen wir eine spannende Fahrt zu einer Rentierfarm südlich des Nordpolarkreises, genauer gesagt nach Överkalix. Unsere Vorfreude war groß, denn man versicherte uns, dass die Rentiere hier sehr zutraulich sind. Bei unserer Ankunft begrüßte uns Anna-Lena, die Besitzerin der Rentierfarm, herzlich und führte uns zu ihren zwei besonders zahmen Rentieren, die sie aus verschiedenen Gründen in ihrem Haus groß gezogen hatte.
Anna-Lena teilte faszinierende Einblicke in die Kultur der Sami mit uns, einem der Urvölker Europas, die in Nordskandinavien beheimatet sind. Rentiere spielen eine zentrale Rolle im Leben der Sami, die sich eng an das Leben dieser Tiere anpassen. Aufgrund des Klimawandels und drohenden Futtermangels holt Anna-Lena im Winter ihre Rentiere auf ihr Grundstück.
Die Sami sind ein indigenes Volk, welches seit Jahrhunderten in Nordschweden beheimatet ist. Sie haben eine reiche und faszinierende Geschichte, die vorallem auf der Wertschätzung der Natur und der Rentierhaltung basiert. Die Sami haben ihre kulturelle Identität bewahrt und pflegen bis heute ihre traditionellen Bräuche und Lebensweisen. Ihre Geschichte ist geprägt von einem engen Verhältnis zur Natur. Über Generationen hinweg haben sie ihre Traditionen, wie traditionelle Kleidung, Joik-Gesänge, Sprache und Bräuche bewahrt, die stark mit der Rentierhaltung verwoben sind. Die Rentiere sind nicht nur eine wichtige Einnahmequelle, sondern auch ein zentraler Bestandteil der samischen Kultur und Identität.
Trotz ihrer tiefen Verwurzelung in der Tradition und Natur sind die Sami dennoch auch mit modernen Herausforderungen konfrontiert. Der Klimawandel, die Industrialisierung und die Auswirkungen der Globalisierung bedrohen ihre traditionelle Lebensweise und ihre Umwelt. Die Sami kämpfen um den Schutz ihrer traditionellen Weidegebiete und um die Bewahrung ihrer kulturellen Identität.
Ausgestattet mit reichlich Rentierfutter und Moos betraten wir das großzügige Rentiergehege. Hier wurde schnell deutlich, dass die Rentiere nicht nur zutraulich, sondern auch unglaublich weich und kuschelig waren. Während Anna-Lena uns mit interessanten Geschichten versorgte, gelang es uns, alle 43 neugierigen Pfadfinderinnen und Pfadfinder mit diesem besonderen Erlebnis zu begeistern.
Voller neuer Eindrücke und wertvoller Erkenntnisse über kulturelle Unterschiede sowie das harmonische Zusammenleben von Mensch und Natur traten wir schließlich den Rückweg nach Gällivare an.
- Erfahrungsbericht von Luzi Weber und Klara Löffert (Stamm Löwenherz)
Eine weitere Besonderheit auf dieser Reise war der Silvesterabend, keiner von uns hatte je zuvor Silvester bei den Pfadfindern verbracht. Am Vormittag ging es los mit den Vorbereitungen, alles wurde geschmückt, dekoriert und für den gemeinsamen Abend hergerichtet. Die Küche (Valle, Stamm Turtle und Poärsch, Stamm Deutschritter) überraschte uns an diesem Abend mit einem “opulenten Silvester-Mahl” bestehend aus 5 Gängen. Neben 5 Mordfällen und einem Mordversuch, die an diesem Abend als Krimi-Dinner gelöst wurden, konnte also nach Herzenslust geschlemmt werden. Der magische Jahreswechsel wurde zusammen im Schnee bei knapp -30 Grad draußen gefeiert.
Der Neujahrsmorgen begann mit einer Sonderedition des Formats “Auf Streife - die Spezialisten”. Ausgehend von dem R/R Konzept einer Streife, widmeten wir uns dem borealen Waldbestand, sowie den Hintergründen und Auswirkungen auf die Ökologie dieser Region. Die Streife erkundete die nördlichste Vegetationszone, in der noch Bäume gedeihen. Hauptbaumarten in diesem Bereich sind Kiefer, Fichte, Tanne und die europäische Lärche, gelegentlich auch Eiben. Die Bodenvegetation besteht hauptsächlich aus anspruchslosen Kräutern, Sträuchern und Moosen. Aufgrund gefrorener Böden können Bäume kein Wasser über die Wurzeln aufnehmen. Nadelbäume verzeichnen jedoch geringeren Wasserverlust über die Blattoberfläche, unterstützt durch eine zusätzliche Wachsschicht.
Besonders hervorzuheben ist, dass borealer Nadelwald einer der größten CO2-Speicher der Welt ist. Trotzdem birgt der Wald auch großes Potenzial für die Holzwirtschaft. Das Holz weist aufgrund kurzer Wachstumsperioden enge Jahrringe auf und ist dadurch stabiler sowie witterungsbeständiger. Eine der größten Gefahren für den borealen Nadelwald liegt insbesondere in Russland, wo im 24/7-Betrieb gearbeitet wird. Hier arbeiten Harvester und Forwarder als Gespann zusammen. Die Harvesterleistungen sind höher als in Deutschland, mit durchschnittlich 15-25 fm/h in reinen Nadelwald-Kahlschlägen im Vergleich zu etwa 12 fm/h in deutschen Wäldern. Abschließend suchten sich alle Teilnehmenden individuelle Orte im Wald aus, an denen sie sich wohlfühlen. Dort verweilten sie für fünf Minuten in Ruhe und meist im Schnee, schlossen möglicherweise die Augen und konzentrierten sich auf die wahrnehmbaren Geräusche. Nach dieser Phase fand ein gemeinsamer Gesprächskreis statt, in dem die Eindrücke und Erfahrungen ausgetauscht wurden.
Am 03.01.2024 stand ein weiteres großes Highlight der Fahrt an. Ein Besuch des Eishotels, das mit der faszinierenden Architektur und den vielfältigen, aus Eis und Schnee geformten Statuen, ein einmaliger Anblick war.
Bericht:
Wem der Winter nördlich vom Polarkreis noch nicht kalt genug ist, braucht wohl offensichtlich noch mehr Eis. Eis, das wir hier in Gällivare und auf unseren Ausflügen in die Umgebung zwar schon in großer Menge gesehen und erlebt haben, aber mit dem noch sehr viel mehr möglich ist, als nur darauf auszurutschen. Yngve Bergqvist hatte wohl den gleichen Gedanken, als er sich 1989 entschied, das Eishotel in Kiruna zu errichten.
Das Eishotel ist kein Hotel, wie man es so kennt, weil sich die für den Erhalt des Eises notwendigen Minusgrade nur sehr schwer mit einem angenehmen Hotelkomfort vereinbaren lassen. Stattdessen sind die einzelnen Hotelzimmer Raum für Eis- und Schneekunst, in die ein Hotelbett integriert ist. Die ausstellenden Künstler:innen kommen aus der ganzen Welt, allerdings sind Großbritannien, Schweden, Norwegen, Finnland und Italien überdurchschnittlich oft vertreten.
So bildet die Deluxe Suite 202 "Oh my Goddess!" von Ulrika Tallving (SWE) und Giovanna Martinez (ITA) ein riesiges, göttlich anmutendes Gesicht, das mit Blumenskulpturen und Blüten der Kakaopflanze aus Eis verziert ist. Die Statue ist eine Hommage an die Kakaogöttin, wobei das Raumkonzept aus Liebe zu Schokolade, zur Kakaozeremonie und der Verbundenheit zur Erde und dem Universum entstanden ist. Die Kakaozeremonie gilt als meditative Praxis, um die Verbundenheit zwischen Körper, Geist und Universum zu stärken. Es stammt ursprünglich aus den Mesoamerikanischen Kulturen, ist aber mittlerweile weltweit verbreitet.
Oh My Goddess wants to encourage visitors to create new traditions and rituals. Here we want to allow them to take a moment to sink down into the earth, follow the roots all the way down to the water and drink from the source of life.
Auch die dunkle Seite des Kakaoanbaus - die noch heute geläufige Ausbeutung der Kakaobauern - wird porträtiert, indem die Kakaogöttin nur als Maske dargestellt ist.
Die Deluxe Suite 201 "Light Collectors" von Lisa Lindquist (GBR) und Kate Munro (GBR) wiederum erzählt mit vielen kleinen Schneeskulpturen und anderen Dekoelementen eine Geschichte davon, wie die kleinen Schneewesen magische Lichtkugeln aus Eis sammeln. Die dargestellten Schneewesen sind teils Mensch und teils Tier und scheinen direkt aus einem Märchen entsprungen zu sein.
“The winter sun folds into a night sky
as the lands softens towards sleep
There in the shadow of a thousand years
walk in the Ancient gathering light
Their clothes are woven of fleece of stars
And the songs they sing
Are the jewels of the underworld"
Die Gäste sind dazu eingeladen, sich ihre eigene Narrative auszudenken und die Geschichte im Kopf fortzuführen oder sich einfach fallen zu lassen und die Kunst auf sich wirken zu lassen. Die Raumgestaltung und die Motive sind stark an heidnische Traditionen der Wintersonnenwende angelehnt, da dies einer der bedeutendsten Tage in der eisreichen Winterzeit vieler Kulturen ist. Das Ziel des "Light-collecting" hat in Regionen mit lediglich 3 bis 5 Stunden Sonnenlicht am Tag natürlich eine ganz andere Bedeutung als bei uns in Deutschland.
Hier, wie auch in Suite 202, wird darüber hinaus auch noch Licht genutzt, um das Gesamtbild mit den Eis- und Schneeskulpturen zu vervollständigen. Es war überaus beeindruckend, die dutzenden verschiedenen Räume zu betreten und damit sofort in eine komplett neue Welt einzutauchen. Wenn man das anfängliche Staunen über die Komplexität und den Detailreichtum der einzelnen Räume irgendwann hinter sich gelassen hat, konnte man anfangen zu verstehen, welche historischen und soziokulturellen Bedeutungen die einzelnen Elemente der Räume hatten. Angefangen bei lokalen und regionalen Anspielungen auf den in der Region stark verbreiteten Untertagebau über reine Darstellungen der natürlichen Besonderheiten und Schönheit der Region bis zu globalen Kulturen und Traditionen haben die Räume eine große Bandbreite an Themen behandelt. Es war auf jeden Fall eine sehr schöne und lohnende Reise in das Eishotel, in welchem wir sehr viel mehr über lokale und regionale Kultur lernen konnten, als ursprünglich gedacht.
- Erfahrungsbericht von Hans Stephani (Stamm Burgheldon) und Lara Weiß (Stamm graue Wölfe)
Natürlich haben wir uns auch bei Themenabenden intensiv mit lokalen Thematiken auseinandergesetzt. Inhaltliche Blöcke über den Bergbau in Kiruna, insbesondere den Abbau seltener Erden, standen hierbei im Mittelpunkt, dabei wurden die technischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen für die einheimische Bevölkerung und die Umwelt näher beleuchtet. Ebenfalls interessant war der Austausch mit lokalen Pfadfinder:innen bei einem entspannten Abendessen. Die Aktion war im Großen und Ganzen ein voller Erfolg, brachte jedoch auch ungeahnte Schwierigkeiten mit sich; so war die Unterkunft recht klein für 43 Leute und wir mussten uns sehr ausführlich mit Security und der lokalen Feuerwehr auseinandersetzen, um Lösungen zu suchen. Besonders, als sich immer mehr Krankheitsfälle anbahnten, wurde dieser Zustand noch kritischer und unsere Möglichkeiten waren leider sehr begrenzt. Auch die medizinische Versorgung vor Ort war unerwartet schlecht, so war ein längerer Krankenhausaufenthalt inklusive Operation eines Teammitgliedes ebenfalls sehr nervenaufreibend. Die Mobilität war leider stark eingeschränkt; da wir uns gegen eine eigene Anreise mit einem Teamauto ausgesprochen hatten wegen Sicherheitsbedenken, waren wir vor Ort vor allem auf den Nahverkehr angewiesen oder schlichtweg zum Laufen verdonnert. Die Tagesausflüge mit stundenweise gemieteten Bus waren daher nicht nur wegen des Erkundens der Landschaft sehr beliebt, sie boten auch eine sehr willkommene Abwechslung. Die Gefahren des Nicht-Mobil-Seins wurden uns auch deutlich vor Augen geführt, als ein Teilnehmer in einer potenziell gesundheitsgefährdenden Situation nicht abgeholt werden konnte, da alle Taxis ausgebucht waren und die einzige Alternative ein Rettungswagen gewesen wäre. Glücklicherweise ohne Schaden davongekommen, war dies dennoch für alle Teilnehmenden nochmal der Warnhinweis, die raue Natur Lapplands nicht zu unterschätzen. Trotz der kältesten Temperaturen der letzten 25 Jahre fühlten sich einige Teilnehmenden unter Aufsicht erfahrener Teamer sicher genug in ihrer Ausrüstung, um das Wagnis Kohte im Schnee einzugehen. Sonderlich erholsam war der Schlaf laut Teilnehmern wohl nicht, aber dafür wohl der erinnerungswürdigste. Trotz bester Prognosen waren Polarlichter leider nur sehr spärlich wahrzunehmen, aber das Suchen nach dem besten Spot war dennoch ein Highlight für viele. Beendet wurde diese denkwürdige Aktion mit einem Abreisechaos ungeahnter Ausmaße. So sorgten einige Zugentgleisung im Norden Schwedens und Norwegens für das Lahmlegen der gesamten Zugstrecke bis nach Stockholm. Erst zum zweiten Abreisezeitpunkt zwei Tage später war wieder eingeschränkter Bahnverkehr möglich. Bedingt durch diese spontanen Ausfälle wurde in einer mehrstündigen Krisensitzung nach langem Alternativen-Suchen der Entschluss gefasst, einen Bus für die 19 Abreisenden zu mieten, der hoffentlich alle gesund, munter und pünktlich nach Stockholm bringen würde, um den von dort startenden Nachtzug nach Hamburg erwischen zu können. Weder gesund noch munter noch pünktlich erreichten unsere abgekämpften Teilnehmer nach mehr als 22 Stunden Busfahrt Stockholm. Dies inkludierte mehrere Stunden Stau wegen Verkehrsunfällen sowie einen mehrstündigen Aufenthalt in der Notaufnahme und einen beinahe verkehrsuntüchtigen Transporter. Die zweite Abreisegruppe kam glücklicherweise bis Deutschland sehr problemlos durch.
Die "Schweden Lempelse" war nicht nur ein Abenteuer in der Natur, sondern bot auch eine bereichernde Auseinandersetzung mit aktuellen Themen und Herausforderungen der Region an. Die Teilnehmenden kehrten trotz kalter Hände und Füße und nach zusätzlich ungeahnt turbulentem An - wie Abreisen mit neuen Perspektiven, Freundschaften und einem reichen Erfahrungsschatz zurück.
Das ganze Team bestand aus: Bianca Sternstein (Stamm Zugvögel), Cora Knochenhauer (Stamm Wisent), Malte Teichert (Stamm Graue Drachen), David Eichelsheimer (Stamm Wisent), Demian Botros (Stamm Löwenherz), Hans Stephani (Stamm Burgheldon), Jonas Müller (Stamm Steinadler), Rowan Magh; Poärsch (Stamm Deutschritter), Sandy Heinz (Stamm Zugvögel), Sophia Modler; Phichen (Stamm Wisent) und Valerie Jatsch (Stamm Turtle). Wir möchten uns in diesem Zuge noch einmal bei Teilnehmenden bedanken, die diese Reise mit möglich gemacht haben und dazu beigetragen haben, dass diese Reise als eine wirklich einmalige Erfahrung in Erinnerung bleibt. Wir bedanken uns auch aus der Ferne bei Helena, die die örtliche Pfadfinder:innen-Gruppe in Gällivare leitet und uns rund um die Uhr mit Rat und Tat hilfreich zur Seite stand.
Vielen Dank an die Stiftung Pfadfinden, dass ihr diese Reise mit ermöglicht und uns unterstützt habt!
Tack så mycket och vi ses på nästa Lempelse-kampanj!